TelemedizinAugust 2020vitagroup AG
CorBene und EHeR•versorgt: Zauberworte zur Milderung von Versorgungsmangel sind leicht auszusprechen. Eine Analyse.
Das Gesundheitssystem steckt in der Klemme – und zwar richtig. Einerseits fehlen die Versorger und das in steigendem Maße. Andererseits wächst mit der zunehmend alternden Bevölkerung auch der Versorgungsbedarf. Die Schere geht also immer weiter auseinander. Eine solche Entwicklung ist stets prekär. Heikel wird es, wenn noch psychologische Faktoren hinzukommen, die eine kritische Entwicklung beschleunigen.
Auch das ist in der Versorgung aktuell zu beobachten und hat damit zu tun, wie wir Mangel erleben. Ein Mangel führt stets dazu, dass wir den Mangel emotional stärker bewerten, als er objektiv ist. Überreaktionen können die Folge sein. Diese gefährliche Mischung beinhaltet sozialen Sprengstoff. Sie bedeutet verminderte Lebensqualität und hat das Potenzial, Kosten explodieren zu lassen: Ein älterer Mensch, der die Hilfe von einem Allgemeinmediziner benötigt, sie aber nicht erhält, weil es ihn einfach nicht gibt, ruft in seiner Verzweiflung nicht selten den Notarzt.1 Die Folge: Schon seit Jahren schnellen die Kosten für Notarzteinsätze nach oben.2
Wer ein Problem lösen will, ist gut darin beraten, auch einmal über den Tellerrand zu schauen. Hilfe findet sich in den Feldern der Betriebswirtschaft und der telemedizinischen Technik. Die Betriebswirtschaft empfiehlt, dort tätig zu werden, wo das Problem am größten ist. Bei älteren Menschen sind dies ohne Zweifel Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems.
Krankheitsdiagnosen (ICD-10) | Krankheitskosten Deutschland (Mill. EUR) | |||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
unter 15 Jahre | 15 bis unter 30 Jahre | 30 bis unter 45 Jahre | 45 bis unter 65 Jahre | 65 bis unter 85 Jahre | 85 Jahre und älter | Insgesamt | ||
Jahr 2015 | ||||||||
ICD10-I20-I25 | Ischämische Herzkrankheiten | 0 | 11 | 152 | 2062 | 3891 | 670 | 6788 |
ICD10-I21 | Akuter Myokardinfarkt | x | 4 | 69 | 725 | 1264 | 249 | 2337 |
ICD10-I22 | Rezidivierender Myokardinfarkt | x | 0 | 0 | 2 | 4 | 1 | 8 |
ICD10-I30-I52 | Sonstige Formen der Herzkrankheit | 69 | 128 | 279 | 1976 | 6882 | 2911 | 12245 |
ICD10-I50 | Herzinsuffizienz | 11 | 13 | 43 | 492 | 2733 | 1985 | 5277 |
Insgesamt | 20267 | 23375 | 33700 | 92454 | 125337 | 43073 | 338207 |
© Statistisches Bundesamt (Destatis), 2020
Die Telemedizin gibt das Hilfsmittel an die Hand. Das Land Rheinland-Pfalz beispielsweise geht mit der Telemedizin neue Wege – und das mit Erfolg. Um Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz vor allem im ländlichen Raum eine qualitativ hochwertige Versorgung zu eröffnen, hat das Gesundheitsministerium ein neues digitales Versorgungsprogramm erprobt – und e.H.e.r.-versorgt genannt. Die Technik dazu lieferte vitaphone.
Das Projektteam unter Leitung der Deutschen Stiftung für chronisch Kranke entwickelte im Mai 2015 das telemedizinische Betreuungskonzept EHeR•versorgt, das bis Ende 2017 im Eifelkreis Bitburg-Prüm mit dem Marienhaus Klinikum Eifel Bitburg, dem Westpfalz-Klinikum Kaiserslautern, dem Fraunhofer IESE und der vitaphone GmbH durchgeführt wurde. Das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie förderte das Modellprojekt im Rahmen der Initiative Gesundheitswirtschaft.
Die ersten Ergebnisse liegen nun vor und belegen bereits jetzt, dass der Einsatz von Telemonitoring in einer ländlich geprägten Region – mit geringer Einwohnerdichte und zugleich größeren Entfernungen zu Ärzten und Kliniken – zu einer hochwertigen medizinischen Versorgung beiträgt, so die rheinland-pfälzische Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler, die die Ergebnisse vorstellte.3
Ministerin Bätzing-Lichtenthäler ist überzeugt: „Im Bereich der weit verbreiteten Herz-Kreislauf-Erkrankungen bietet die Telemedizin eine große Perspektive für eine gute Versorgung im ländlichen Raum. Durch das Telemonitoring können große Entfernungen überbrückt und Ärzte und Patienten entlastet werden. So war es auch Ziel des Modellprojektes, gemeinsam mit unseren Partnern zu erproben, wie das Versorgungskonzept zukünftig in Rheinland-Pfalz flächendeckend genutzt werden kann. Dafür ist ebenfalls die Akzeptanz bei den Krankenkassen wichtig, mit denen wir aktuell in der Diskussion sind.“
Und so funktioniert EHeR•versorgt: Über eine gesicherte Internetverbindung werden die Messdaten von Gewicht, Blutdruck und Puls drahtlos an ein eigens eingerichtetes Telemedizinzentrum übertragen. Dort werden die Werte täglich geprüft und die Patientinnen und Patienten im Umgang mit der Erkrankung geschult. Auf Basis der Informationen können die behandelnden Ärzte die Therapie individuell anpassen, sodass auf Veränderungen des Gesundheitszustandes schnell und adäquat reagiert werden kann. Zugleich steht das Telemedizinzentrum jederzeit als Ansprechpartner zur Verfügung.
Im Projektzeitraum wurden insgesamt 43 Patientinnen und Patienten über sechs Monate – zusätzlich zur persönlichen Vorstellung beim behandelnden Arzt – telemedizinisch betreut. Die Ergebnisse überzeugen: So sank beispielsweise die Depressivität vor allem in der Altersgruppe von über 75 Jahren deutlich. Gleichzeitig stieg bei allen Patientinnen und Patienten das Wissen über die eigene Erkrankung und darüber, wie bei Veränderungen des Gesundheitszustandes vorgegangen werden muss. Objektive medizinische Tests zeigten, dass sich der allgemeine Gesundheitszustand über den Betreuungszeitraum signifikant verbesserte und die Schwere der Symptome – wie Atemnot, Leistungsminderung, Müdigkeit und Ödeme – abnahm. Damit geht auch eine Verbesserung der Lebensqualität und -freude der Patientinnen und Patienten einher, die vor allem bei an chronischer Herzinsuffizienz leidenden Menschen im Verlauf der Erkrankung immer weiter sinkt.
Ähnliche Resultate wurden bereits im Jahre 2014 aus der CorBene-Studie veröffentlicht.4
Parameter | Entwicklung | Kontrollgruppe | Interventionsgruppe |
---|---|---|---|
Hospitalisierung | Nimmt ab | 18,9 % | 6,2 % |
Rehospitalisierung | Nimmt ab | 36 % | 16,6 % |
Länge des Klinikaufenthalts | kein Unterschied | ||
Jährliche ärztliche Kontaktrate | Steigt an | 2,2 | 1,8 |
Mortalität | Kein Unterschied | 6,7 % | 5,0 % |
Jährliche HI-bezogene stationäre Behandlungskosten | 683,88 € | 222,22 € |
Während die Mortalität durch Telemonitoring in der CorBene-Studie bereits erkennbar sank aber noch nicht statistisch signifikant nachweisbar war, ist dieser Nachweis nun mit einer jüngst veröffentlichten Studie der Charité gelungen.5
Ähnlich wie bei Herzerkrankungen kann Telemedizin viele chronische Erkrankungen lindern und sie zudem frühzeitig erkennen. Lungenerkrankungen beispielsweise lassen sich leicht überwachen und auch das Monitoring von Hautveränderungen und die Versorgung chronischer Wunden lassen sich mit der Versorgungsform TELEARZT schon heute zum Nutzen des Patienten und der Ärzte und verminderter Kosten für die Kostenträger neu gestalten.
Gesundheitspolitiker müssen also nicht zaubern lernen – die Mittel gibt es schon. Wieder dürfte ein Blick über den Tellerrand helfen: Schaffen wir es, die Sozialpolitik so zu verändern, dass die Einführung flächendeckender telemedizinischer Versorgungsformen erleichtert wird, können wir besorgniserregende Entwicklungen in der Versorgung der Bevölkerung abwenden.
1 Gröninger, A., Zenk. T: Telemedizinischer Lösungsansatz für das Cake-Eating-Problem in der ambulanten Versorgung, Posterpräsentation BMC-Kongress 2018
2 Hanefeld, C. Deutsches Ärzteblatt Int 2018; 115: 41–8
3 Pressemitteilung des MINISTERIUMS FÜR SOZIALES, ARBEIT, GESUNDHEIT UND DEMOGRAFIE, RHEINLAND-PFALZ VOM 28.2.2018
4 Hendricks V, Schmidt S, Vogt A, Gysan D, Latz V, Schwang I, Griebenow R, Riedel R: Case management program for patients with chronic heart failure— effectiveness in terms of mortality, hospital admissions and costs. Dtsch Arztebl Int 2014; 111(15): 264–70. D OI: 10.3238/arztebl.2014.0264, Online unter: https://cdn.aerzteblatt.de/pdf/111/15/m264.pdf?ts=03.04.2014+14%3A08%3A34 (Stand: 12.08.2020)
5 Efficacy of telemedical interventional management in patients with heart failure (TIM-HF2): a randomised, controlled, parallel-group, unmasked trial, Friedrich Koehler et al, Lancet 2018 https://doi.org/10.1016/S0140-6736(18)31880-4
6 Pressetext DGK 01/2017: Herzinsuffizienz: Immer mehr Betroffene bessere Therapien senken die Sterblichkeit. Online unter: https://dgk.org/daten/PA-Herzbericht-Herzschwaeche-Frei-form.pdf (Stand: 12.08.2020)
7 Todesursachen. Die 10 häufigsten Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Online unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/sterbefaelle-herz-kreislauf-erkrankungen-insgesamt.html (Stand: 12.08.2020)
8 Der Propensity Score (PS) ist definiert als die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Patient die zu prüfende Therapie erhält. Der PS wird in einem ersten Schritt aus den vorhandenen Daten geschätzt, beispielsweise in einem logistischen Regressionsmodell. Im zweiten Schritt erfolgt die Schätzung des eigentlich interessierenden Therapieeffekts unter Zuhilfenahme des PS. Dabei stehen vier Methoden zur Verfügung: PS-Matching, „inverse probability of treatment weighting“(IPTW)-Schätzung, Stratifizierung nach dem PS oder Regressionsadjustierung für den PS.
Bilder: © iStock